Freitag, 10. Juni 2011

Senecas „exsilium“ auf Korsika – unfreiwillige, äußere Einsamkeit und innere Freiheit - - Aktuelle Fassung in dem im Juli 2015 publizierten Werk: Carl Gibson Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche

Lucius Annäus Senecas ethischer Impetus in Anlehnung an Cicero und in der Absetzung von Ovid


Senecas Aussagen zur Einsamkeit bis hin zu relativ genauen und differenzierten Phänomenbeschreibungen gehen weit über das hinaus, was Cicero zu dem Thema zu sagen hat und was sich später bei Mark Aurel, dem Philosophen im Kaisergewand oder bei Epiktet findet.
Seneca, der mit seinen grundlegenden Ausführungen zur Einsamkeit eine geistige Linie festigt, die im Epikureismus und frühen Stoizismus eines Chrysipp und Zenon wurzelt und - von Petrarca und Montaigne fortgeführt – bis hin zu Schopenhauer und Nietzsche reicht, stützt seine Erkenntnisse einerseits auf eigene existenzielle Erfahrungen der Einsamkeit, die er unfreiwillig während seiner mehrjährigen Verbannung auf Korsika machen konnte; andererseits besinnt er sich auf frühere Denkansätze und greift vor allem auf stoisches, epikureisches, ja selbst vorsokratisches Gedankengut zurück.
Vieles von dem, was Seneca über die Einsamkeit als Abgeschiedenheit schreibt, ist also im Wesentlichen exegetische Einsamkeitsrezeption antiker Vorstellungen, die aus dem Mythos selbst sprechen oder aus mythisch inspirierter Literatur stammen. Die von den Gottheiten bestraften, dem Alleinsein und der Vereinsamung preisgegebenen Helden Bellerophon und Prometheus, Tantalus und Sisyphus sind dort die Träger des Phänomens. Seneca verfolgt in seinen Abhandlungen jedoch nicht das Ziel zu sagen, was Einsamkeit ist; er sucht nicht nach einer Definition von „solitudine“, also relativ neuzeitlichen Begriff, den er nur selten verwendet, sondern er beschreibt das Leben in Einsamkeit – „in otio“ – als ein Leben in Muße und Kontemplation, nur nicht an sich, vielmehr als Voraussetzung zu einer vernünftigen Lebensführung.
Lebe zurückgezogen, dieser Grundsatz vieler Epikureer und Stoiker ist das vorgegebene Thema – Seneca antwortet darauf in einem symphonischen Hymnus mit unendlichen Variationen.
Manche große Geister der Antike, unter ihnen hervorstechende Charaktere wie Aristoteles, Cicero und Ovid, hatten das „exsilium“, das eine besondere Form des Einsamkeitserlebnisses verkörpert, am eigenen Leib erfahren müssen und tiefgründig darüber berichtet. Exil bedeutet Heimatlosigkeit, Exponiertheit, Stigma, Schmerz, Leiden und letztendlich Verzweiflung, alles Phänomene, die das vereinsamte Individuum bestimmen und die Einsamkeit als Zustand des Leides erscheinen lassen.
All das war Seneca bewusst, als er, als offensichtliches Opfer einer politischen Intrige mitten aus dem gesellschaftlichen Leben gerissen und auf die entlegene Insel Korsika verbannt worden war. Der gegen ihn erhobene Vorwurf – und es blieb bei dem Vorwurf – er hätte sich in fremden Schlafzimmern herumgetrieben und die Ehe gebrochen, war natürlich genauso absurd wie die Anschuldigung, Ovid hätte mit seiner humoresken Verführungskunst die Sitten Roms gefährdet.
Wen interessierte die Wahrheit?
Seneca musste die Ewige Stadt verlassen und seinen Palast gegen ein kleineres Häuschen auf Korsika eintauschen, um dort, hauptsächlich unter Nichtrömern, acht Jahre seines Lebens zu verbringen. In dieser Kulisse von äußerer Einsamkeit entstanden mehrere philosophische Abhandlungen und Trostschriften, in welchen sich Seneca selbst tröstet, indem er andere tröstet und einige kleinere literarische Produktionen im epigrammatischen Stil. In einem dieser Epigramme fängt er sein Lebensumfeld auf Korsika ein:

„Fremdes Corsisches Land, von jähen Felsen umschlossen,
Schauerlich, menschenleer, starrt den ödes Gebiet;
Nicht bringt Früchte dein Herbst, nicht ziehet Ernten dein Sommer;
Und dein Winter voll Reif kennt nicht Pallas Geschenk;
Nicht ein erfreulicher Lenz streut hier erquickende Schatten,
In dem unseligen Land wächst nicht ein Gräschen empor;
Nicht die Gabe des Brot’s und des Quells, nicht die letzte des Feuers,
Zwei, die Verbannung nur, und der Verbannte sind hier.“

Melancholische Landschaft auch da.
Die inhaltliche Nähe zu Ovid ist geradezu frappierend. Die Anklänge, doch vor allem die Art, wie das Sujet angegangen wird, erinnert stark an die Schilderungen Ovids in den „Tristia“ und in den „Epistulae“. Das gleiche unselige waste land, eine Natur, die weder Früchte hervorbringt, noch ästhetischen Trost spendet, das fehlende Lebenselixier Quellwasser, kaum Nahrung und Wärme, stattdessen aber winterlicher Frost und menschliche Verlassenheit.
Seneca greift auf vergleichbare Melancholiesymbolik zurück, um den Schrecken des Unortes hervorzuheben. Wenn Ovid übertrieben habe sollte, als er sein natürliches wie menschliches Umfeld am Schwarzen Meer in höchster Negativität skizzierte, ohne müde zu werden, immer neue Leidensaspekte hinzuzufügen, dann übertreibt auch Seneca. Denn auch er ist darum bemüht, zu sagen, was er leidet – wenigstens im Epigramm. Wenn es aber an das Philosophieren geht, besinnt er sich auf Ciceros Tuskulanen, in welchen die bereits betonte Verniedlichung der Verbannung betrieben wird. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Seneca jedes dieser Werke genau kannte und vielleicht sogar auf Korsika in diesen Werken las. Innerhalb von acht Jahren Acht hatte Seneca ausreichend Zeit, Gelegenheit und Muße, um über den Zustand seiner Zwangsexilierung nachzudenken. Seine Lösungsansätze sind überliefert.
Als guter Stoiker ist Seneca davon überzeugt, das Gefühl der Heimatlosigkeit und das Fremdsein in der Fremde lasse sich dadurch überwinden, indem der Verbannte den Verbannungsort in die Gesamtwelt einfügt und ihn somit als Stätte des Leidens aufhebt. Wenn einer in das Exil geht, also verbannt wird, nimmt er sich selber mit, verkündet Seneca in seinem Trostbrief an die eigene Mutter. Sein extensiver Weltbegriff und die sokratische Auffassung, jeder Mensch sei eigentlich ein Kosmopolit, ein Weltbürger, ermöglichen es ihm, die Heimatlosigkeit als solche aufzulösen und das erzwungene Exil als bloßen Ortswechsel zu deklarieren, der auf die seelische Befindlichkeit des Individuums keinen Einfluss ausüben dürfe. Seneca bedient sich der Vernunftargumente in der Art wie sie Epikur und die älteren Stoiker vorexerziert hatten.
In der „Trostschrift für Mutter Helvia“ heißt es:
„Dass du der Heimat fern bist, ist nicht schlimm. Du hast dich so mit Philosophie vertraut gemacht, dass du wissen müsstest: Jeglicher Ort ist für den Weisen Heimatland.“ Die Philosophie – und der bewusste Rückzug auf diese – ist das Instrumentarium, das Heilmittel zur Überwindung der Trostlosigkeit. Es kommt darauf an, die Situation zu meistern, indem sie ertragen wird, und zwar in Rückbesinnung auf die eigentlichen Qualitäten des Menschen, vor allem auf die alle Sphären durchziehende Vernunft. Die Ratio wird zum bestimmenden Faktor:
„Der Geist ist’s. Er geht mit ins Exil, und in den unwirtlichsten Wüsteneien ist er selbst, wenn er soviel fand, wie zur Erhaltung des Leibes genügt, überreich an seinen Gütern und freut sich daran.“
Das sind schöne Worte des Trostes, die vielleicht eine partielle Bewältigung der Verbannungssituation ermöglichen. Wo ihre Grenzen liegen, bezeugen nicht zuletzt die „Tristia“ des Ovid und die schlimmen Lamentationen in den „Epistulae ex Ponto“, die als bittere Zeugnisse tief erlebter Einsamkeit gelten können. Ruhe und Stille, die sich fernab von der Hektik des Gesellschaftslebens, in welchem der Einzelmensch oft nur ein Gehetzter und Fremdbestimmte ist, in der Einsamkeit einstellen, ermöglichen die Meditation im religiösen und die Reflexion im philosophischen Bereich.
Ovid, der ein Mensch der Gesellschaft war, bejaht diese Bedingungen weniger stark als Seneca, obwohl er auch aus der Einsamkeit heraus Kunst produziert. Er malt die nicht selbst gewollte, von anderen herbei geführte Situation als subjektive Darstellung des Erleidens von Einsamkeit, während Seneca als konsequenter Stoiker daraus eine ethische Position konstruiert. Für den Denker kommt es nicht primär darauf an zu sagen, was er gerade fühlt, sondern er weist auf ein ethisches Imperativ hin, auf das, was sein soll, was aus der Lage erwachsen kann. Bei Ovid, dem Dichter, bleibt die Klage Klage – bei Seneca, dem Lebensweisen, wird die Klage nicht mehr als solche vorgetragen, sondern gleich zum ethischen Appell erhoben.
Als Stoiker erhebt er den Blick zum Himmel und flüchtet in den Trost einer Weltanschauung, die ihn mit dem Göttlichen verbindet – und somit Religion wird. Während ein Stoiker im Übergreifenden aufgehen kann und sich damit geistig mystischen Positionen nähert, an die christliche Denker später mühelos anknüpfen können, bleibt Ovid – ohne das eigene Negativlos zu akzeptieren - bestenfalls die Besinnung auf die Göttlichkeit der Kunst.
Die Ruhe der Einsamkeit, für Seneca ein Wert an sich, vor allem wenn noch die Apathie, das Freisein von körperlichen und seelische Schmerzen hinzukommt, ist die Bedingung für die von den Stoikern und Epikureern erstrebte Ataraxie, die wiederum eine Vorbedingung der höchsten Seinsform, der Eudämonie ist. Der Gleichmut der Seele führt letztendlich zur wahren Glückseligkeit, wobei Epikur deutlicher als die Stoiker das Glück im Irdischen erstrebt, die Stoiker hingegen von universeller Harmonie erfüllt sind.
Seneca appelliert an das Bewusstsein eines autarken Stoikers, der die Kraft aufbringt, unbeeindruckt vom Walten der Affekte eine strenge Lebensphilosophie durchzuhalten. Doch im tatsächlichen Leben, das vom Auf und Ab, von Hochs und Tiefs, bestimmt wird, ist es schwer, die aufwallenden Emotionen und Gestimmtheiten durch eine stoische Gleichmäßigkeit, durch eine „constantia“ der Seele, aufrecht zu erhalten.
Gerade in Tomis, dem Verbannungsort Ovids, der heute zufällig Constanta heißt, wurde dieser Beweis vielfach erbracht. In der Verbannung, im „exsilium“, ist das Leben, über dessen Kürze Seneca virtuos reflektiert, eben nicht kurz, sondern unendlich lang – wie jedes Leiden dem Betroffenen lang erscheint – und voller Schwankungen bis in die Untiefen der Melancholie und Verzweiflung hinein. Von der Situation aus betrachtet ist das von anderen forcierte Exil beider Geister bis auf einige graduelle Unterschiede im Wesentlichen vergleichbar. Die große Differenz in der Exilauffassung – und damit der Bewertung des Lebens in Einsamkeit – besteht in der geradezu gegensätzlichen Haltung. Während Ovid, der einst lebensfrohe Dichter und Sarkast, seine eigene Lage reflektiert und in unzähligen Variationen vehement dramatisiert, klagt und anklagt, appelliert der schriftstellernde Philosoph Seneca an das Ausharren, an das Durchhalten in der Situation, wobei Klage und Anklage zwar nicht ganz ausbleiben, aber nicht im Mittelpunkt der Bewältigung stehen.
Es ist symptomatisch für den Philosophen Seneca, dass er, auf dem öden Fels sitzend wie später ein deutscher Minnesänger auf einem spitzen Stein, nicht das subjektive Los reflektiert, analysiert und in ein Gedicht oder in eine Tragödie fließen lässt, sondern dass er eine Schrift verfasst, die über das Individuelle hinaus geht. In den Tagen des Exils auf Korsika konzipiert und erarbeitet Seneca die Schrift „De constantia sapientis“ , die „Unerschütterlichkeit des Weisen“, in welcher er die Autarkie des stoischen Philosophen in den Mittelpunkt stellt, indem er darlegt, das ein wahrer Philosoph selbst dann nicht erschüttert werden kann, wenn ihm Unrecht geschieht, da er sich selbst schon über dieses erhoben hat. Mit diesem Bewusstsein wird Seneca später, von seinem Schüler Nero zum Freitod gezwungen, in die Ewigkeit hinüber schreiten.

Erst in der Trostschrift an die eigene Mutter wird er auf das eigene Schicksal zurückkommen. Doch er wird sein Los nicht beklagen wie Ovid in seinen traurigen Elegien, sondern – ausgehend von anderen Fällen der Verbannung hoch stehender Persönlichkeiten aus der römischen Geschichte – wird er sein Schicksal historisch wie philosophisch zu bewältigen suchen, indem er die Exilsituation als solche verharmlost, trivialisiert und in einer weit angelegten, stoischen Weltsicht auflöst. Während Ovid, dessen nach Rom übermittelte Elegien Seneca wahrscheinlich kannte, permanent damit beschäftigt ist, sich im Kreis um das eigene Ich zu drehen, eine hypochondrische Selbstschau zu betreiben und die barbarische Außenwelt zu beschimpfen, lenkt Seneca die schon von derben Schicksalsschlägen heimgesuchte eigene Mutter von seinem Leiden ab, um ihr auf diese Weise zusätzlichen Kummer und Sorgen zu ersparen. Aus diesem Grund betreibt er keine auch andere belastendes Selbstbeklagen sondern schreitet, wenn er klagt, zur Anklage, in deren Mittelpunkt nicht nur ein einzelner Gewaltherrscher wie Caligula, sondern die gesamte römische Gesellschaft seiner Zeit stehen wird.
Seneca, der – aus der Einsamkeit der Verbannung heraus - somit bewusste Gesellschaftskritik betreibt, richtet seinen Blick auf den Geist der Zeit, der ein Ungeist ist – die Dekadenz.
Doch noch bevor er zum Schlag gegen die Gesellschaft ausholt, die er wesentlich mitgeprägt hat, relativiert Seneca zwei entscheidende Begriffe, die Ovid einst viel Kummer bereiteten:
die „Verbannung“ selbst und die für Ovid eminent wichtige Wertekategorie „Heimat“.
Provokativ fragt Seneca: „videamus, quid sit exsilium“-  und antwortet unmittelbar darauf: „Nempe loci commutatio“.
Was ist Exil mehr als „Ortswechsel“?
Dann steigert er die verharmlosende Untertreibung noch indem er sarkastisch hinzufügt: „Carere patria intolerabile est?“ – der Verlust des Vaterlandes ist unerträglich. Ist er das wirklich?
Ovid hätte da auf keinen Fall zugestimmt, weil für ihn der Begriff patria, Vaterland, für ihn gleichbedeutend war mit der Summe aller positiven Assoziationen, mit Werten wie Geborgenheit, Sprache, Kultur, Zivilisation und Kunst. Doch Seneca, all dies ignorierend, stellt nur fest, dass diese positive Kategorie für unendlich viele Menschen überhaupt nicht existiert; nicht nur für den stoischen Philosophen, der davon überzeugt ist, das jeder Mensch den göttlichen Samen in sich trägt, göttlich ist und diese Göttlichkeit überall hin mitnimmt, sondern für ganze Völker, die seit Jahrhunderten durch Europa wandern, der Vermischung und der Assimilation unterworfen waren, für viele Einzelmenschen und für große Individuen aus der römischen Geschichte, die fern der Heimat als Exilierte in eigentlicher Selbstbesinnung glücklich werden konnten, ohne etwas Substanzielles zu vermissen.
„Und all diese Völkerwanderungen – was sind sie anderes als massenweises Exil?“
Heimatlose, Vertriebene gibt es überall auf der Welt – selbst Rom, der Mittelpunkt der Welt, wurde von einem Vertriebenen gegründet, von Äneas, der mir seinem Volk wegziehen musste, nachdem Ilias gefallen war. Der Einzelmensch kann überall auf der Welt das Bewusstsein seiner Freiheit erlangen und seinen Blick zu den Sternen erheben.
Kein Ort für die Verbannung ist zu finden, denn nichts, was in der Welt ist, ist dem Menschen fremd. Von überall hebt er gleichermaßen den Blick zum Himmel; stets gleich weit ist alles Göttliche von allem Irdischen entfernt.“ Kant wird später diesen schönen Gedanken, der aus einer psychischen Notwendigkeit entspringt, aber auch in die Selbsttäuschung führen kann, aufgreifen. Seneca verweist auf die kosmopolitische Weltsicht, die eigentlich für jeden Humanisten gültig sein sollte: „Dass du der Heimat fern bist, ist nicht schlimm. Du hast dich so mit Philosophie vertraut gemacht, dass du wissen müsstest: Jeglicher Ort ist für den Weisen Heimatland.“
Diese dem edlen Marcellus entlehnten, an die Mutter gerichteten Worte, die Ovid schroff ablehnen würde, bezieht Seneca auf seine eigene Situation auf Korsika. Eine Verurteilung zur Verbannung zog zwar oft den Verlust des Bürgerrechts und des Vermögens nach sich und führte – selbst bei der milderen Form der relegatio, die Ovid traf, in Armut und Entehrung. Doch kein Verbannungsort ist karg genug, um nicht das wenige abzuwerfen, was der Mensch zur Erhaltung seiner Existenz benötigt.
Keine Insel, selbst der wasserlose und dornenreiche Felsblock Korsika nicht, und keine Wüste kann öd genug sein, um den Menschen anzuhalten, neu Wurzeln zu schlagen; denn, da er all seine Vorzüge bei sich hat, mitgenommen hat, kann er die Unannehmlichkeiten des Exils überwinden und sich seines Dasein freuen. Auch kann der Verbannte, der sich selbst entwirft, nicht seiner inneren Freiheit beraubt werden. „Deswegen kann er auch niemals heimatlos sein, da er frei und den Göttern verwandt und mit der ganzen Welt, der ganzen Ewigkeit verbunden ist. Denn seine Gedanken kreisen um den ganzen Himmel und machen sich jede Vergangenheit und Zukunft eigen.“ Der Stoiker erhebt sich leibverachtend über die körperliche Hülle und konzentriert sich auf Geist und Seele: „Animus est, qui divites facit.“
 Während Ovid, schon leicht zur Hypochondrie neigend, den kranken Körper streng beobachtet, ohne den Auswirkungen entfliehen zu können, verkündet Seneca – obwohl auch er körperliche Leiden kannte – zumindest theoretisch die befreiende Selbsterhebung des Subjekts: „Der arme Leib da, das Gefängnis und die Fessel der Seele, wird dahin und dorthin gestoßen. Er muß Martern, er muss Überfälle, er muss Krankheiten erleiden. Die Seele selber freilich ist gottgeweiht und ewig und von der Art, dass man nicht Hand an sie legen kann.“ Plotin, Gnostiker und Christen werden ihm in diesen Anschauungen folgen.
Senecas Ausführungen zur Exilsituation stehen in der Tradition jahrhundertealter Problematisierungen der Thematik in der griechischen Literatur und Philosophie. Als einer seiner unmittelbaren Vorgänger hatte Cicero die Exilfrage in seinen „Gesprächen aus Tusculum“ angeschnitten und dabei im fünften Gespräch die Verbannung als ein großes Übel ausgemacht. Was hat jener zu fürchten, der Geld und Ehre verachtet?
Exilium, credo, quod in maxumis malis ducitur“ – Ich denke, die Verbannung, die man zu den größten Unglücken rechnet.“
In diesen Gesprächen, die Ovid, dem poeta doctus, bekannt sein konnten, neigt Cicero allerdings auch schon zur Bagatellisierung der Exilsituation, indem er in der Verbannung nur eine ausgedehnte Reise oder eine Reise ohne Rückkehr sieht. Der statische Ortswechsel Senecas erfährt eine dynamische Ausweitung, die ins Unendliche strebt. Deshalb greift Cicero – stellvertretend für den Weisen überhaupt, der kraft seiner Rückbesinnung auf die Philosophie jedes Übel zu bewältigen weiß – ein Wort des Sokrates auf, in welchem sich dieser als Bewohner des Kosmos bezeichnet – als Weltbürger par excellence. Ein Kosmopolit ist überall zu Hause – frei nach der Überzeugung des Griechen Teukros:
Patria est, ubicumque est bene“ – das Vaterland ist dort, wo es einem gut geht –
also dort, wo eine freie Geistesentfaltung möglich ist, ganz egal ob diese als Philosoph oder Dichter erfolgt. Dabei kann eine adäquate Versklavung daheim sogar einem freiwilligen Exil vorgezogen werden.
Cicero erwähnt eine ganze Reihe illustrer Griechen, unter ihnen Aristoteles, Theophrast, Kleanthes und Chrysipp, die allesamt ihr halbes Leben auf Reisen durch die Fremde verbrachten, um das Ausgesetztsein außerhalb der Heimat zu entschärfen. Ovid wird viele subjektive Argumente finden, um in seinem Oeuvre vom Schwarzen Meer massiv zu widersprechen. Ihm sind das existenziell Erlebte, der Schmerz, die Traurigkeit und die Melancholie, näher als der moralische Entwurf. Doch Seneca wird – das Ideal stoischer Ethik voll im Visier - Cicero folgen und – wo sich das Vorbild noch vornehm zurückhält – in diesem Kontext auch die römische Gesellschaft kritisch angehen.

Foto: Monika Nickel

Was ist die Insel im Meer - Unfreiwilliges Exil,Verbannungsort oder selbst gewählte, letzte Freiheit?



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