1.3. Im Refugium der Eremitage von Montmorency: Kult der Einsamkeit – Landleben, Naturgenuss und geistiges Schaffen.
Nicht viel anders als Petrarca einige Jahrhunderte vor ihm in der lichten Provence oder Montaigne, zieht sich nunmehr auch Jean-Jacques Rousseau, früh und des Treibens müde aus den Salons der Großstadt zurück. Er kehrt Paris den Rücken und führt bald ein selbstgewähltes, naturverbundenes und schlichtes Leben in der Einsamkeit seines neuen Refugiums in Montmorency. Das neue Domizil führt den bezeichnenden Namen Eremitage.
Für Rousseau war das Leben in Abgeschiedenheit immer schon ein wesensgemäßer Zustand, ein Drang, dem er sich nicht entziehen konnte. Rückblickend stellt er fest: „Seit ich mich gegen meinen Willen in die Welt gestürzt hatte, sehnte ich mich stets nach Les Charmettes und dem Leben zurück, das ich dort geführt hatte. Ich fühlte mich für das Land und die Zurückgezogenheit geboren, es war mir unmöglich, anderswo glücklich zu sein. In Paris, im Strudel der vornehmen Gesellschaft, bei den Schwelgereien der Soupers, im Glanz der Schauspiele, im Dunst der Berühmtheit – immer sehnte ich mich nach meinen Büschen, meinen Bächen, meinen einsamen Wanderungen.“
Der Enthusiasmus erlebter, genossener Einsamkeit, verbunden mit einem ebenso begeisterten Naturerleben wird geradezu zum Kult erhoben und entsprechend zelebriert: „Welche Zeit habe ich mir am häufigsten und am liebsten in meinen Träumen zurückgerufen? Nicht die Freuden meiner Jugend waren es. Sie waren zu selten, zu sehr mit Bitterkeit vermengt. Es waren die Zeiten meiner Zurückgezogenheit, meine einsamen Spaziergänge, jene herrlichen Tage, an denen ich allein war mit meiner guten Haushälterin, mit meinem lieben Hund, einer alten Katze, den Vögeln des Feldes und den Tieren des Waldes, mit der ganzen Natur und ihrem unbegreiflichen Schöpfer. Vor Tagesanbruch erhob ich mich, um den Sonnenaufgang in meinem Garten zu betrachten, und wenn ich sah, dass es ein schöner Tag werden würde, war mein erster Wunsch, es möchten weder Briefe noch Besuche kommen, um mein Entzücken zu stören. Vor ein Uhr ging ich so schnell wie möglich fort, damit nur keiner käme, der mich in Anspruch nehmen könnte. Ich suchte im Walde irgendeinen wilden Fleck, ein verlassenes Plätzchen, wo keine Spur von Menschenhand zu entdecken war, wo kein Störenfried sich zwischen mich und die Natur drängen konnte.“[4] Senecas Befürchtung, jemand könne kommen und ihm die für das geistige Schaffen reservierte Zeit stehlen, Petrarcas Flucht aus den Mauern von Avignon hinaus aufs Land nach Fontaines-de-Vaucluse oder Michel de Montaignes Rückzug in den Turm vor der eigenen Schlosstür sind hier wieder präsent – und die große Familie der Einsamen und Melancholiker.
Hinter der Einsamkeit, die Rousseau naturnah und naturverbunden in der Provinz erlebt, steht die Sehnsucht des Pantheisten nach natürlicher und kosmischer Geborgenheit. In der Natur fühlt er sich allein, auf sich selbst gestellt - gleichzeitig ist er mit ihr und ihrem Schöpfer identisch. Die gesamte Natur, das Reich der Pflanzen und der Tiere, erscheint ihm beseelt und von Harmonie erfüllt. Selbst seine Lebenspartnerin, die er abschwächend Haushälterin nennt, um möglicherweise jede Form von emotionalen Anhängigkeiten auszuschließen, zählt nicht als Person oder souveränes Individuum. Sie ist vielmehr ein Akzidenz der Natur, eine willkommene, angenehme Begleitung, nicht viel mehr als der Hund und die Katze.
Wie bei anderen Melancholikern aus unterschiedlichen Epochen auch, erscheint Rousseau die Einsamkeit als der eigentliche Seins-Zustand, als sein Phänomen schlechthin. Er lebt in einer - seiner künstlerischen Sensibilität entsprechenden - Gestimmtheit, die jederzeit von außen zerstört werden könnte: durch einen Brief mit schlechten Nachrichten, durch einen unwillkommenen Gast, der ihn der kostbaren, nur für das geistige Schaffen reservierte Zeit beraubt oder durch andere exogene Ereignisse. Der enthusiastisch-euphorischen Phase der Gestimmtheit, dem Manischen, kann dann aber ebenso dramatisch ein Abdriften in tiefe Depression folgen, ein Versinken in exzessive Traurigkeit und Melancholie. Zur Melancholie disponierte Charaktere wie Rousseau kennen diese Bedrohung und fürchten sie. Nicht zuletzt deshalb, weil sie nicht wissen können, ob sie noch einmal heil aus der Krise herausfinden.
Rousseaus Einsamkeit-Auffassung wurzelt im hellenistischen Denken. Mit Epikur, dem hedonistischen Gartenphilosophen, teilt er die kontemplative, naturnahe Existenz fern vom Trubel und der Seichtheit der Massen, das Zurückgezogensein im wilden Garten, der nur gewachsene Natur ist und noch kein gestalteter Park. Mit den Stoikern teilt der Franzose aus der Schweiz die pantheistische, von ordnender Vernunft durchströmte Welt- und Naturauffassung und Gott als Schöpfer des Universums. Mit beiden Geistesrichtungen aber verbindet ihn der kreative denkerische und künstlerische Prozess - das Schaffen aus der Einsamkeit heraus. Hingegen ist Rousseaus Misanthropie, die man später vor allem bei Schopenhauer wiederfindet, eine Haltung, die, von einigen Ausnahmen abgesehen, den alten Griechen weitestgehend fremd war. Ein weiterer fundamentaler Unterschied ist das Verhältnis zur Gesellschaft. Während Epikureer und Stoiker noch an den Sinn der Gesellschaft glaubten und deshalb an den - in Einsamkeit - Philosophierenden appellierten, sich konstruktiv und verantwortungsvoll einzubringen, stellt die Gesellschaft für den Skeptiker Rousseau den negativen Gegenpol zur positiv gewerteten Einsamkeit dar. Die Gesellschaft legt – nach dem Diktum Rousseaus, die frei geborenen Menschen in moderner Gesellschaft wieder in Ketten, sie gängelt den Alltag der Bürger, bestimmt ihr Leben, macht sie unfrei – zersetzt alle Werte, wirft sie zurück und fördert dadurch die Melancholie. Den Beweis für diese radikal-kulturpessimistische These finden Rousseau und andere Literaten auch in den oft tragischen Abläufen der Menschheitsgeschichte.
Selbst in späteren Jahren bleibt die Einsamkeit, die „tiefe und köstliche Einsamkeit“, im Leben Rousseaus eine konstante Größe. Die Tendenz zum Lamento und zur Hypochondrie - im eigentlichen Sinne des Wortes - nimmt jedoch kontinuierlich zu. „Und ich, der unbekannte, arme und von einem unheilbaren Übel geplagte Mensch, denke in meiner Einsamkeit mit Vergnügen nach und finde, dass alles gut ist.“[5] Irgendwann reicht der Selbstgenuss der Einsamkeit nicht mehr aus: „In der Einsamkeit fühlt man besonders den Vorteil, mit jemand zu leben, der zu denken versteht.“[6] Also doch: Bei aller exzessiven Berufung auf die Einsamkeit, braucht Rousseau nicht nur seine pantheistische Gottheit, um zu überleben, sondern auch noch einen denkenden, ihn und seine Gedanken verstehenden, mitfühlenden Menschen aus Fleisch und Blut an der Seite.
Leseprobe aus: Carl Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.
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Inhalt des Buches:
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
Das 521 Seiten umfassende Buch ist am 20 Juli 2015 erschienen.
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
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Das 521 Seiten umfassende Buch ist am 20 Juli 2015 erschienen.
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
Motivik europäischer Geistesgeschichte und anthropologische Phänomenbeschreibung – Existenzmodell „Einsamkeit“ als „conditio sine qua non“ geistig-künstlerischen Schaffens
Mit Beiträgen zu:
Epikur, Cicero, Augustinus, Petrarca, Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Ficino, Pico della Mirandola, Lorenzo de’ Medici, Michelangelo, Leonardo da Vinci, Savonarola, Robert Burton, Montaigne, Jean-Jacques Rousseau, Chamfort, J. G. Zimmermann, Kant, Jaspers und Heidegger,
dargestellt in Aufsätzen, Interpretationen und wissenschaftlichen Essays
1. Auflage, Juli 2015
Copyright © Carl Gibson 2015
Bad Mergentheim
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-00-049939-5
Aus der Reihe:
Schriften zur Literatur, Philosophie, Geistesgeschichte
und Kritisches zum Zeitgeschehen. Bd. 2, 2015
Herausgegeben vom
Institut zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Europa, Bad Mergentheim
Bestellungen direkt beim Autor Carl Gibson,
Email: carlgibsongermany@gmail.com
- oder regulär über den Buchhandel.
„Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit!“ – Das verkündet Friedrich Nietzsche in seinem „Zarathustra“ als einer der Einsamsten überhaupt aus der langen Reihe illustrer Melancholiker seit der Antike. Einsamkeit – Segen oder Fluch?
Nach Aristoteles, Thomas von Aquin und Savonarola ist das „zoon politikon“ Mensch nicht für ein Leben in Einsamkeit bestimmt – nur Gott oder der Teufel könnten in Einsamkeit existieren. Andere Koryphäen und Apologeten des Lebens in Abgeschiedenheit und Zurückgezogenheit werden in der Einsamkeit die Schaffensbedingung des schöpferischen Menschen schlechthin erkennen, Dichter, Maler, Komponisten, selbst Staatsmänner und Monarchen wie Friedrich der Große oder Erz-Melancholiker Ludwig II. von Bayern – Sie alle werden das einsame Leben als Form der Selbstbestimmung und Freiheit in den Himmel heben, nicht anders als seinerzeit die Renaissance-Genies Michelangelo und Leonardo da Vinci.
Alle großen Leidenschaften entstehen in der Einsamkeit, postuliert der Vordenker der Französischen Revolution, Jean-Jacques Rousseau, das Massen-Dasein genauso ablehnend wie mancher solitäre Denker in zwei Jahrtausenden, beginnend mit Vorsokratikern wie Empedokles oder Demokrit bis hin zu Martin Heidegger, der das Sein in der Uneigentlichkeit als eine dem modernen Menschen nicht angemessene Lebensform geißelt. Ovid und Seneca verfassten große Werke der Weltliteratur isoliert in der Verbannung. Petrarca lebte viele Jahre seiner Schaffenszeit einsam bei Avignon in der Provence. Selbst Montaigne verschwand für zehn Jahre in seinem Turm, um, lange nach dem stoischen Weltenlenker Mark Aurel, zum Selbst zu gelangen und aus frei gewählter Einsamkeit heraus zu wirken.
Weshalb zog es geniale Menschen in die Einsamkeit? Waren alle Genies Melancholiker? Wer ist zur Melancholie gestimmt, disponiert? Was bedingt ein Leben in Einsamkeit überhaupt? Welche Typen bringt die Einsamkeit hervor? Was treibt uns in die neue Einsamkeit? Weshalb leben wir heute in einer anonymen Single-Gesellschaft? Wer entscheidet über ein leidvolles Los im unfreiwilligen Alleinsein, in Vereinsamung und Depression oder über ein erfülltes, glückliches Dasein in trauter Zweisamkeit? Das sind existenzbestimmende Fragen, die über unser alltägliches Wohl und Wehe entscheiden. Große Geister, Dichter, Philosophen von Rang, haben darauf geantwortet – richtungweisend für Gleichgesinnte in ähnlicher Existenzlage, aber auch gültig für den Normalsterblichen, der in verfahrener Situation nach Lösungen und Auswegen sucht. Dieses Buch zielt auf das Verstehen der anthropologischen Phänomene und Grunderfahrungen Einsamkeit, Vereinsamung, Melancholie und Acedia im hermeneutischen Prozess als Voraussetzung ihrer Bewältigung. Erkenntnisse einer langen Phänomen-Geschichte können so von unmittelbar Betroffenen existentiell umgesetzt werden und auch in die „Therapie“ einfließen.
Carl Gibson, Praktizierender Philosoph, Literaturwissenschaftler, Zeitkritiker, zwölf Buchveröffentlichungen. Hauptwerke: Lenau. Leben – Werk – Wirkung. Heidelberg 1989, Symphonie der Freiheit, 2008, Allein in der Revolte, 2013, Die Zeit der Chamäleons, 2014.
ISBN: 978-3-00-049939-5
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