Jean-Jacques Rousseau – Alle großen Leidenschaften entstehen in der Einsamkeit. Die Apotheose der Einsamkeit im Oeuvre des Vordenkers der Französischen Revolution. - Gesamt-Kapitel:
Gesamt-Kapitel, mit Fußnoten :
Gesamt-Kapitel, mit Fußnoten :
Teil V: „Einsamkeit“ und Melancholie in der Moderne
Jean-Jacques Rousseau – Alle großen Leidenschaften entstehen in der Einsamkeit. Die Apotheose der Einsamkeit im Oeuvre des Vordenkers der Französischen Revolution.
„Die „wirkliche“
Erfahrung der Einsamkeit ist denkbar unliterarisch – und tausend Meilen von der
literarischen Vorstellung entfernt, die man sich von der Einsamkeit macht.“
Albert Camus, Tagebücher 1935-1951.
Jean-Jacques Rousseau, 1712 in Genf
geboren, gehört zu den wirkungsreichsten Schriftstellern und Denkern überhaupt.
Er ist der Vordenker der Französischen Revolution, der Erneuerer der Erziehung,
der Anwalt des kleinen Mannes, der
Apologet des naturgemäßen Lebens und neuen Naturgefühls – und schließlich ist
er ein Denker, der wie kaum ein anderer die Apotheose
der Einsamkeit betreibt und auch dieser Gestimmtheit zu einer einmaligen
Breitenwirkung und Resonanz verhilft. Das Empfinden der Einsamkeit bei
zahlreichen Dichtern der englischen, französischen und deutschen Romantik,
Goethe mit einbezogen, ist von Rousseaus Erleben und Verständnis der Einsamkeit mit
beeinflusst.
1.1. Rückzug, „Schwermut“ und „Hypochondrie“.
Im 25. Lebensjahr kam es
in Rousseaus Leben zu einem einschneidenden Ereignis.
Während eines chemischen Experiments mit Arsen, soll es - nach Rousseaus eigenen Aussagen - zu einer heftigen Explosion
gekommen sein. Der Unfall mit Folgeverletzungen sollte den künftigen
Lebensablauf einschneidend verändern. Der Literat litt ab diesem Zeitpunkt
regelmäßig an Herzklopfen, Ohrensausen, an diversen psychosomatischen
Wechselwirkungen und Beeinträchtigungen, die in Anwandlungen von Melancholie und schwere Depressionen mündeten. Der
seelisch wie körperlich gebrandmarkte Rousseau zog sich zurück und verbrachte - mehr leidend
als glücklich - viel von seiner Zeit in freiwilliger Selbstisolation.
Rückblickend notiert er später im Leben: „Ich
blieb mehr daheim, und hier erfasste
mich nicht die Langeweile, sondern die Schwermut; die Hypochondrie folgte auf
die Leidenschaften; ich weinte und seufzte über die nichtigsten Dinge, ich
fühlte das Leben hinschwinden, ohne es genossen zu haben.“[1]
Rousseaus
Melancholie-Erlebnis ist hier – bei Gleichsetzung der Begriffe „Schwermut“ und „Hypochondrie“ – treffend beschrieben. Den aufwallenden „Leidenschaften“, also der manischen
Phase, folgt die Niedergeschlagenheit, die „Depression“, faktisch aus dem
Nichts, hier ausgelöst durch „die nichtigsten Dinge“. Andere
Melancholiker nach Rousseau werden das gleiche Phänomen nahezu identisch
erleben und es ähnlich dokumentieren.
1.2. „Zurück zur Natur“! im „Discours“ - Plädoyer für das einfache Leben und harsche Gesellschaftskritik. Macht die „Sozialisierung“ den an sich guten Menschen schlecht?
„Scriptorum
chorus omnis amat nemus, et fugit urbes.“
Horaz, (Lib. ll. Ep. II)
Nach einigen aktiven
Jahren in Paris, wo alle Misanthropie und Melancholie zunächst verflogen
schien, verfasste Rousseau im Jahr 1755 seinen berühmten „Discours“, in welchem er vehement - und
weitaus radikaler als seinerzeit Epikur - für ein einfaches und selbstbestimmtes Leben
eintritt, für ein radikales „Zurück zur
Natur“!
Das einfache Leben „des freundlichen und sanften Wilden“, der
im seelischen Einklang, in Harmonie mit seinem natürlichen Umfeld lebt, wird in
dem Werk idealisiert, ja verherrlicht, während die als unnatürlich empfundene
Existenz des Einzelnen in der zivilisierten Gesellschaft des Abendlandes
diskrepant, ungerecht und lebensfeindlich erscheint und somit verteufelt wird.
Eines der Exemplare seines „Discours“
schickte Rousseau an Voltaire, in der Hoffnung,
sein großer Antipode im Geistigen werde die Schrift positiv aufnehmen,
rezensieren, seine Thesen stützen. Weit gefehlt! Voltaire, die ausgewiesene
Geistesgröße der Zeit par excellence, verspürte keine Lust, andere Götter neben
sich zu dulden und ließ den Enthusiasten aus Genf galant abblitzen, ja er gab
die Schrift des philosophischen Rivalen sogar der Lächerlichkeit preis, indem
er in seiner sarkastischen Briefantwort die Thesen des Autors auch noch verhöhnte.
In der scharfen Replik spottet der Zyniker Voltaire hämisch: „Ich habe, mein Herr, Ihr neues Buch gegen
das Menschengeschlecht erhalten und danke Ihnen dafür. Sie werden bei den
Menschen, denen Sie die Wahrheiten über die Menschen sagen, Gefallen finden,
aber Sie werden sie nicht bessern.“
Dann folgt der bitterböse
polemische Zusatz: „Nie hat man soviel
Geist darauf verwendet, uns wieder zu Eseln zu machen. Man bekommt Lust, auf
vier Füßen zu gehen, wenn man ihr Werk ließt.“[2]
In seiner
Auseinandersetzung mit der Naturrecht-Debatte der Zeit, strebt Rousseau, im „Discours“ bestimmt mehr
begeisterungsfähiger Schriftsteller als exakter Wissenschaftler, trotzdem keine
Idealisierung des Urzustandes der Menschheit an. Ihm kommt es vielmehr darauf
an, auf das inadäquate Sein und auf die
Unfreiheit des gesellschaftlich eingebunden Menschen und Staatsbürgers in der
modernen Gesellschaft des aufgeklärten Jahrhunderts aufmerksam zu machen - in deutlicher Absetzung speziell
von John Lockes Schrift „Two Treatises of
Government“ (1689); (Zwei Abhandlungen über die Regierung), in welcher,
jedoch nicht repräsentativ für die Neuzeit, der gute Mensch des Goldenen Zeitalters in intakter Gesellschaftsform beschrieben
wird. Für den gesellschaftskritischen Rousseau des „Discours“ hingegen gilt unmissverständlich: Die Gesellschaft tötet die Individualität des Einzelnen ab, sie
zerstört seine Positivität, das Gute in ihm. Die Sozialisierung, der Eintritt
des Menschen in die politisch geordnete Gesellschaft, verändert den
Menschen in seiner Wesenheit, in seinem naturbestimmten Sein; sie macht ihn böse
und schlecht.[3]
Die gleiche Skepsis, mit
der gesellschaftliche Kritik geübt wird, setzt Rousseau gegen die Intellektuellen ein. Vor allem
bemängelt er deren, in der Realität nicht überprüfte Bücherweisheiten und
stellt - mit der Kritik an der eigenen Gelehrten-Kaste - sich letztendlich
selbst in Frage. Eine Konsequenz dieser gesellschaftskritischen Haltung, die er
Zeit seines Lebens nie mehr aufgeben wird, ist der Rückzug aus der
Öffentlichkeit, verbunden mit einer gezielten Flucht in die Einsamkeit.
1.3. Im Refugium der Eremitage von Montmorency: Kult der Einsamkeit – Landleben, Naturgenuss und geistiges Schaffen.
Nicht viel anders als
Petrarca einige Jahrhunderte vor ihm in der lichten
Provence oder Montaigne, zieht sich
nunmehr auch Jean-Jacques Rousseau, früh und des Treibens müde aus den
Salons der Großstadt zurück. Er kehrt Paris den Rücken und führt bald ein
selbstgewähltes, naturverbundenes und schlichtes Leben in der Einsamkeit seines neuen Refugiums in Montmorency. Das neue Domizil führt den
bezeichnenden Namen Eremitage.
Für Rousseau war das Leben
in Abgeschiedenheit immer schon ein wesensgemäßer
Zustand, ein Drang, dem er sich nicht entziehen konnte. Rückblickend stellt
er fest: „Seit ich mich gegen meinen
Willen in die Welt gestürzt hatte, sehnte ich mich stets nach Les Charmettes
und dem Leben zurück, das ich dort geführt hatte. Ich fühlte mich für das Land und die Zurückgezogenheit geboren, es
war mir unmöglich, anderswo glücklich zu sein. In Paris, im Strudel der
vornehmen Gesellschaft, bei den Schwelgereien der Soupers, im Glanz der
Schauspiele, im Dunst der Berühmtheit – immer
sehnte ich mich nach meinen
Büschen, meinen Bächen, meinen einsamen
Wanderungen.“
Der Enthusiasmus erlebter,
genossener Einsamkeit, verbunden mit
einem ebenso begeisterten Naturerleben wird geradezu zum Kult erhoben und
entsprechend zelebriert: „Welche Zeit
habe ich mir am häufigsten und am liebsten in meinen Träumen zurückgerufen?
Nicht die Freuden meiner Jugend waren es. Sie waren zu selten, zu sehr mit
Bitterkeit vermengt. Es waren die Zeiten
meiner Zurückgezogenheit, meine einsamen Spaziergänge, jene herrlichen Tage, an denen ich allein war mit
meiner guten Haushälterin, mit meinem lieben Hund, einer alten Katze, den
Vögeln des Feldes und den Tieren des Waldes, mit der ganzen Natur und ihrem
unbegreiflichen Schöpfer. Vor Tagesanbruch erhob ich mich, um den Sonnenaufgang
in meinem Garten zu betrachten, und wenn
ich sah, dass es ein schöner Tag werden würde, war mein erster Wunsch, es
möchten weder Briefe noch Besuche kommen, um mein Entzücken zu stören. Vor ein
Uhr ging ich so schnell wie möglich fort, damit nur keiner käme, der mich in
Anspruch nehmen könnte. Ich suchte im Walde irgendeinen wilden Fleck, ein
verlassenes Plätzchen, wo keine Spur von Menschenhand zu entdecken war, wo kein Störenfried sich zwischen mich und
die Natur drängen konnte.“[4]
Senecas Befürchtung, jemand könne kommen und ihm die für das geistige Schaffen
reservierte Zeit stehlen, Petrarcas Flucht aus den Mauern von Avignon hinaus
aufs Land nach Fontaines-de-Vaucluse oder Michel de Montaignes Rückzug in den
Turm vor der eigenen Schlosstür sind hier wieder präsent – und die große Familie der Einsamen und
Melancholiker.
Hinter der Einsamkeit,
die Rousseau naturnah und naturverbunden in der Provinz
erlebt, steht die Sehnsucht des Pantheisten nach natürlicher und kosmischer
Geborgenheit. In der Natur fühlt er sich allein, auf sich selbst gestellt -
gleichzeitig ist er mit ihr und ihrem Schöpfer identisch. Die gesamte Natur,
das Reich der Pflanzen und der Tiere, erscheint ihm beseelt und von Harmonie erfüllt.
Selbst seine Lebenspartnerin, die er abschwächend Haushälterin nennt, um möglicherweise
jede Form von emotionalen Anhängigkeiten auszuschließen, zählt nicht als Person
oder souveränes Individuum. Sie ist vielmehr ein Akzidenz der Natur, eine
willkommene, angenehme Begleitung, nicht viel mehr als der Hund und die Katze.
Wie bei anderen
Melancholikern aus unterschiedlichen Epochen auch, erscheint Rousseau die Einsamkeit als der eigentliche
Seins-Zustand, als sein Phänomen
schlechthin. Er lebt in einer - seiner künstlerischen Sensibilität
entsprechenden - Gestimmtheit, die jederzeit von außen zerstört werden könnte:
durch einen Brief mit schlechten Nachrichten, durch einen unwillkommenen Gast,
der ihn der kostbaren, nur für das geistige Schaffen reservierte Zeit beraubt
oder durch andere exogene Ereignisse. Der enthusiastisch-euphorischen Phase der
Gestimmtheit, dem Manischen, kann
dann aber ebenso dramatisch ein Abdriften in tiefe Depression folgen, ein Versinken in exzessive Traurigkeit und Melancholie. Zur Melancholie disponierte
Charaktere wie Rousseau kennen diese Bedrohung und fürchten sie. Nicht zuletzt
deshalb, weil sie nicht wissen können, ob sie noch einmal heil aus der Krise
herausfinden.
Rousseaus Einsamkeit-Auffassung wurzelt im
hellenistischen Denken. Mit Epikur, dem
hedonistischen Gartenphilosophen, teilt er die kontemplative, naturnahe
Existenz fern vom Trubel und der Seichtheit der Massen, das Zurückgezogensein im wilden Garten, der nur gewachsene Natur ist
und noch kein gestalteter Park. Mit den Stoikern teilt der Franzose aus der
Schweiz die pantheistische, von ordnender Vernunft durchströmte Welt- und Naturauffassung
und Gott als Schöpfer des Universums. Mit beiden Geistesrichtungen aber
verbindet ihn der kreative denkerische und künstlerische Prozess - das Schaffen aus der Einsamkeit heraus. Hingegen
ist Rousseaus Misanthropie,
die man später vor allem bei Schopenhauer wiederfindet, eine Haltung, die, von einigen
Ausnahmen abgesehen, den alten Griechen weitestgehend fremd war. Ein weiterer
fundamentaler Unterschied ist das Verhältnis zur Gesellschaft. Während
Epikureer und Stoiker noch an den Sinn der Gesellschaft glaubten und deshalb an
den - in Einsamkeit - Philosophierenden appellierten, sich konstruktiv und
verantwortungsvoll einzubringen, stellt die
Gesellschaft für den Skeptiker Rousseau den negativen Gegenpol zur positiv gewerteten
Einsamkeit dar. Die Gesellschaft legt – nach
dem Diktum Rousseaus, die frei geborenen Menschen in moderner
Gesellschaft wieder in Ketten, sie gängelt den Alltag der Bürger, bestimmt ihr
Leben, macht sie unfrei – zersetzt alle Werte, wirft sie zurück
und fördert dadurch die Melancholie. Den Beweis für diese
radikal-kulturpessimistische These finden Rousseau und andere Literaten auch in
den oft tragischen Abläufen der Menschheitsgeschichte.
Selbst in späteren Jahren
bleibt die Einsamkeit, die „tiefe und
köstliche Einsamkeit“, im Leben Rousseaus eine konstante Größe. Die Tendenz zum Lamento
und zur Hypochondrie - im
eigentlichen Sinne des Wortes - nimmt jedoch kontinuierlich zu. „Und ich, der unbekannte, arme und von einem
unheilbaren Übel geplagte Mensch, denke in meiner Einsamkeit mit Vergnügen nach
und finde, dass alles gut ist.“[5]
Irgendwann reicht der Selbstgenuss der
Einsamkeit nicht mehr aus: „In der
Einsamkeit fühlt man besonders den Vorteil, mit jemand zu leben, der zu denken
versteht.“[6]
Also doch: Bei aller exzessiven Berufung auf die Einsamkeit, braucht Rousseau nicht nur seine pantheistische Gottheit, um zu
überleben, sondern auch noch einen denkenden, ihn und seine Gedanken
verstehenden, mitfühlenden Menschen aus Fleisch und Blut an der Seite.
1.4. „Sanssouci“ – Asyl: Ein Einsamer, Friedrich der Große unterstützt einen anderen Einsamen, den verfolgten Wahlverwandten Jean-Jacques Rousseau.
Die Früchte des Lebens in der Einsamkeit sind seine
großen Werke „Emile“ und „Contrat social“ (1762), jenes Opus mit
dem berühmten Satz: „Der Mensch ist frei
geboren, und überall liegt er in Ketten.“
Weite Passagen aus „Emile“ wurden sowohl in Paris wie auch
in Rousseaus Heimatstadt Genf als Generalangriff auf das
Christentum angesehen. Die Folgen davon waren ausgeprägte Stigmatisierung,
öffentliche Bücherverbrennung, Haftbefehl und jahrelange Verfolgung sowohl in
Frankreich, aber auch in der liberaleren Schweiz. Rousseau, auf der Flucht
wie in früheren Jahrhunderten seine
freigeistigen Gefährten in Einsamkeit Pico della Mirandola oder Giordano Bruno,
brauchte Hilfe.
Ja, er fand diese Hilfe,
garniert mit viel Empathie, bei einem anderen Einsamen, bei dem hochgestellten
Philanthropen Friedrich der Zweite,
König von Preußen, den Rousseau früher noch als Tyrannen beschimpft hatte. Friedrich
der Große,
jahrelang Mäzen und Gastgeber Voltaires, wies seinen Verwalter in der preußischen Exklave Neuenburg, im Herzen
der Schweiz gelegen an, dem Asylgesuch
Rousseaus zu entsprechen, den Flüchtling aufzunehmen und
diesen tatkräftig zu unterstützen.
Preußenkönig Friedrich,
von Gottes Gnaden absoluter Monarch und toleranter Freigeist zugleich,
bewunderte Rousseau als einen Wahlverwandten,
als den Einsamen schlechthin, der,
anders als der höchst gesellige Voltaire, großartige Werke aus der Einsamkeit
heraus schuf. Sein mutiges Mäzenatentum rechtfertigend, schreibt der Eremit von Sanssouci an Keith: „Wir müssen diesem armen Unglücklichen
helfen. Sein einziges Vergehen ist es, wunderliche Meinungen zu haben, von
denen er glaubt, dass sie richtig seien. (...) Wenn wir nicht im Kriege und bankrott wären, würde ich ihm eine
Einsiedelei in meinem Garten einrichten, wo er leben könnte, wie nach
seiner Meinung unsere Vorfahren gelebt haben.(...) Ich meine, Ihr Rousseau hat seinen Beruf verfehlt. Er
sollte offenbar ein berühmter Anachoret, ein Einsiedler in der Wüste, werden,
berühmt für seine Sittenstrenge und Selbstkasteiung. (...) Also schließe ich,
dass die Sittlichkeit Ihres Wilden ebenso rein ist wie sein Geist unlogisch.“[7]
Die gönnerhaften Zeilen,
möglicherweise auf einem der Schlachtfelder des Siebenjährigen Krieges
verfasst, könnten von Voltaire selbst stammen. Der Philosoph und
Schriftsteller von Weltrang, Rousseau, erscheint in der
humorvollen Darstellung des selbstherrlichen, kriegslüsternen, doch sehr
realitätsbezogenen Machtmenschen Friedrich II. als eine Art „krankes Genie“, als ein liebenswerter Kauz und als weltfremder
Phantast, der nur nach einem ruhigen Hafen Ausschau hält, nach einem stillen
Ort der Geborgenheit, von welchem aus er weiter schreiben und wirken kann. Dass
Friedrich der Große, der Rousseau viel näher stand. als er es je zugegeben hätte,
sich mit der Residenz in Potsdam
nichts anderes schuf als eine „Eremitage“
im großen Stil – das sagt der absolute Monarch nicht. „Sanssouci“ war – nicht anders als die Märchenschlösser des
bayerischen Königs und Extrem-Melancholikers
Ludwig II. auch – in der Tat das Refugium eines Einsamen und zeitweiligen Misanthropen, dem das Wohl
seiner Hunde wichtiger war als das Los seiner Untertanen.
1.5. „Les Rêveries du promeneur solitaire“[8] - Träumereien eines einsamen Spaziergängers.
In der letzten Phase
seines unruhigen Wanderlebens, das ihn, einer Einladung Humes folgend, bis nach England führen wird, zieht
sich Rousseau auf die Insel St. Peter im Bieler See zurück. Dort widmet er sich seinem
Alterswerk, genauer der Ausarbeitung der autobiographischen „Confessions“, also einer
selbstkritischen Lebensbeschreibung, in welcher er, mutig und unverblümt, viel
mehr Intimes und Tabuverdächtiges preisgibt, als Leser und Gesellschaft
erfahren wollen.
Ferner schreibt der
Einsame auf der Insel im See an dem unvollendet gebliebenen Werk Les Rêveries du promeneur solitaire -
Träumereien eines einsamen
Spaziergängers, das erst nach seinem Tod veröffentlicht werden sollte.
Diese Träumereien, die
zwischen 1776 und 1778 während der zahlreichen Waldspaziergänge entstehen,
sollen keine systematische Abhandlung ergeben. Sondern sie sind, wie die
späteren Herausgeber betonen werden, eine Art Appendix zu den „Confessions“,
Fragmente, spontan niedergeschriebene, stilistisch weniger anspruchsvolle
Gedanken, Aphorismen, kurze Essays, in deren Mittelpunkt das Motiv Einsamkeit steht – wie so oft bei
Rousseau als
großes Thema[9]
mit Variationen ... Allein auf der Welt, ohne Bruder,
ohne Freund, verlassen von allen, allein, fremd, isoliert...diffamiert.
Eine Fundgrube melancholischer Begriffe im literarischen Lamento …
Pathetische
Stilisierungen dieser Art sind die Regel beim späten, gesundheitlich
angeschlagenen und zeitweise paranoiden Rousseau. Einsam ist bei Rousseau ein häufig anzutreffendes
Schlüsselwort und die Einsamkeit,
eine Grundgestimmtheit, die praktisch das gesamte Werk durchzieht, ist, in
allen möglichen Nuancen und Spiegelungen ein Hauptmotiv Rousseaus. Manche Forscher
erkennen darin das Motiv schlechthin.[10]
Auch im Spätwerk sind es
die früher schon artikulierten Meditationen
und Reflexionen eines auf sich selbst gestellten Individuums, das über sein
Verhältnis zur Welt, zu Gott und der Natur, nachsinnt.[11] Das Bei-sich-selbst-Sein des Mark Aurel, das über
Montaigne zu Rousseau führt und bei Heidegger die wesenhafte Existenz, das Leben in der
Eigentlichkeit darstellt, klingt hier wieder an. Tief ist es gefühlt: Rousseau,
dessen Weltanschauung durch das tiefgründige Erleben der Einsamkeit bestimmt
wird, bleibt - wie die lange Reihe seiner Vorgänger von Seneca über Petrarca und Montaigne - im Grunde ein Stoiker und
Epikureer. In seinem Zurück zur Natur preist er das unmittelbare Leben in der
Abgeschiedenheit. Nur dort lebt der Mensch in Einklang mit dem Selbst.
Das Leben in der
Gesellschaft hingegen führt zur Selbstentfremdung und Selbstverleugnung. Dieses
in vielen Nuancen wiederkehrende Grundgefühl bleibt während seines gesamten
Lebens konstant. Gesellschaftsbestimmtes Dasein ist ein Sein in der Uneigentlichkeit – Wie betont: Der von Geburt aus gute Mensch wird erst durch die Einwirkungen der
Gesellschaft böse.
1.6. Einsamkeit ist im Wesen des Künstlers selbst begründet - «Toutes les grandes passions se forment dans la solitude»!
Rousseau verklärt somit die Einsamkeit und er verbindet
sie auch mit dem schöpferischen Schaffen. Hier klingt bereits die in der
Romantik weit verbreitete Vorstellung an, die Einsamkeit sei im Wesen des
Künstlertums selbst begründet. Viele geniale Naturen der letzten Jahrhunderte,
Maler wie Caspar David Friedrich bis hin zu dem oft melancholisch gestimmten,
vereinsamten Vincent van Gogh, Komponisten wie Franz Schubert und Robert Schumann, Philosophen wie Baruch Spinoza,
unzählige Dichter, aber auch Staatsmänner von dem krankhaften Nero über Lorenzo de’ Medici bis hin zu den zu Tiefsinn neigenden Abraham Lincoln[12] und König Ludwig
II. sehen in Einsamkeit
und Melancholie ihr Wesenselement.
«Toutes les grandes passions se forment dans
la solitude»[13], verkündet Rousseau enthusiastisch.
Trotzdem erweitert er den
Einsamkeit-Begriff nicht signifikant. Doch er setzt die melancholische
Grundstimmung durch und wirkt - ganz wie Montaigne - vielmehr durch seine existenzielle Haltung, die überzeugt. Selbst ganz Große unter den
Dichtern und Denkern der europäischen Geistesgeschichte wie Kant und Schopenhauer, Goethe und Byron, Stendhal, Flaubert, Guy de Maupassant oder Tolstoi stehen direkt oder
indirekt unter Rousseaus Einfluss. Und auch die illustren Köpfe des französischen Existenzialismus, Jean-Paul Sartre und Albert Camus, die der
Einsamkeit quasi eine ontische Dimension
verleihen, besinnen sich auf Rousseau.
[1]
Annales, Zitiert nach: Holmsten, Georg: Jean-Jacques Rousseau, Reinbek 1972. S. 42.
[2] Zitiert nach:
Durant Will und Ariel: Kulturgeschichte der Menschheit,
Das Zeitalter Voltaires, Band 14, München 1965. S. 46.
[3]
Im „Contrat social“ wird der
Vordenker der Französischen Revolution diese radikal-anarchischen Positionen
wieder etwas entschärfen und zurücknehmen.
[4] Zitiert nach: Holmsten, Georg: Jean-Jacques Rousseau, Reinbek 1972. S. 83.
[5] Zitiert nach: Holmsten, Georg: Jean-Jacques Rousseau, Reinbek 1972. S. 86.
[6]Ebenda, S. 87.
[7]
Zitiert nach: Durant Will und Ariel: Kulturgeschichte
der Menschheit, Das Zeitalter Voltaires, Band 14, München 1965. S. 225.
[8] Rousseau, Jean-Jacques: Les Reveries du promeneur solitaire, avec une
introduction de Marc Eigeldinger et une notice de
Fréderic-S. Eigeldinger, Genève 1978.
[9] „Me voici donc seul
sur la terre, n’ayant plus de frère, de prochain, d’ami, de société que
moi-meme. », « Etranger, sans parents, sans appui, seul, abandonné de tous,
trahi du plus grand nombre. » Oder: « Seul, etranger, isolé, sans appui, sans
famille, ne tenant qu’à mes principes et à mes devoirs. » « Etranger
infortuné, seul (…) sans défenseur sur la terre, outragé, moqué, diffamé, trahi
de toute une génération. »
[10] Ebenda.
[11] „Ces
heures de solitude et de méditation sont les seules de la journée où je sois
pleinement à moi, sans diversion, sans obstacle, et où je puisse véritablement
dire être ce que la nature a voulu.»
[12] In Nordamerika schaut man bei der wissenschaftlichen
Problematisierung von „Melancholie“ und „Einsamkeit“, vor allem im
psychologischen Bereich, nicht primär auf europäische Koryphäen, sondern auf
eigene „Gestalten der Schwermut“ wie US-Präsident Abraham Lincoln. Vgl. dazu: Ronald G. Comer: Klinische Psychologie. Zweite deutsche Auflage
herausgegeben von Gudrun Sartory. Heidelberg Berlin 2001. S. 174.
[13] J. J. Rousseau, La nouvelle Heloise, in: Oeuvres, Paris 1959ff. Bd. 2. S. 105.
Leseprobe aus: Carl Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.
Deutsche Digitale Bibliothek:
https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/entity/111591457
Carl Gibson
Leseprobe aus: Carl Gibson, Koryphäen der Einsamkeit und Melancholie in Philosophie und Dichtung aus Antike, Renaissance und Moderne, von Ovid und Seneca zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche.
Links, Bücher von Carl Gibson in wissenschaftlichen Bibliotheken, national und international:
WordCat:
WordCat:
DNB (Deutsche Nationalbibliothek):
KIT KVK (Virtueller Katalog Karlsruhe)
Deutsche Digitale Bibliothek:
https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/entity/111591457
Inhalt des Buches:
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
Das 521 Seiten umfassende Buch ist am 20 Juli 2015 erschienen.
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
|
Das 521 Seiten umfassende Buch ist am 20 Juli 2015 erschienen.
Carl Gibson
Koryphäen
der
Einsamkeit und Melancholie
in
Philosophie und Dichtung
aus Antike, Renaissance und Moderne,
von Ovid und Seneca
zu Schopenhauer, Lenau und Nietzsche
Motivik europäischer Geistesgeschichte und anthropologische Phänomenbeschreibung – Existenzmodell „Einsamkeit“ als „conditio sine qua non“ geistig-künstlerischen Schaffens
Mit Beiträgen zu:
Epikur, Cicero, Augustinus, Petrarca, Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Ficino, Pico della Mirandola, Lorenzo de’ Medici, Michelangelo, Leonardo da Vinci, Savonarola, Robert Burton, Montaigne, Jean-Jacques Rousseau, Chamfort, J. G. Zimmermann, Kant, Jaspers und Heidegger,
dargestellt in Aufsätzen, Interpretationen und wissenschaftlichen Essays
1. Auflage, Juli 2015
Copyright © Carl Gibson 2015
Bad Mergentheim
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-00-049939-5
Aus der Reihe:
Schriften zur Literatur, Philosophie, Geistesgeschichte
und Kritisches zum Zeitgeschehen. Bd. 2, 2015
Herausgegeben vom
Institut zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Europa, Bad Mergentheim
Bestellungen direkt beim Autor Carl Gibson,
Email: carlgibsongermany@gmail.com
- oder regulär über den Buchhandel.
„Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit!“ – Das verkündet Friedrich Nietzsche in seinem „Zarathustra“ als einer der Einsamsten überhaupt aus der langen Reihe illustrer Melancholiker seit der Antike. Einsamkeit – Segen oder Fluch?
Nach Aristoteles, Thomas von Aquin und Savonarola ist das „zoon politikon“ Mensch nicht für ein Leben in Einsamkeit bestimmt – nur Gott oder der Teufel könnten in Einsamkeit existieren. Andere Koryphäen und Apologeten des Lebens in Abgeschiedenheit und Zurückgezogenheit werden in der Einsamkeit die Schaffensbedingung des schöpferischen Menschen schlechthin erkennen, Dichter, Maler, Komponisten, selbst Staatsmänner und Monarchen wie Friedrich der Große oder Erz-Melancholiker Ludwig II. von Bayern – Sie alle werden das einsame Leben als Form der Selbstbestimmung und Freiheit in den Himmel heben, nicht anders als seinerzeit die Renaissance-Genies Michelangelo und Leonardo da Vinci.
Alle großen Leidenschaften entstehen in der Einsamkeit, postuliert der Vordenker der Französischen Revolution, Jean-Jacques Rousseau, das Massen-Dasein genauso ablehnend wie mancher solitäre Denker in zwei Jahrtausenden, beginnend mit Vorsokratikern wie Empedokles oder Demokrit bis hin zu Martin Heidegger, der das Sein in der Uneigentlichkeit als eine dem modernen Menschen nicht angemessene Lebensform geißelt. Ovid und Seneca verfassten große Werke der Weltliteratur isoliert in der Verbannung. Petrarca lebte viele Jahre seiner Schaffenszeit einsam bei Avignon in der Provence. Selbst Montaigne verschwand für zehn Jahre in seinem Turm, um, lange nach dem stoischen Weltenlenker Mark Aurel, zum Selbst zu gelangen und aus frei gewählter Einsamkeit heraus zu wirken.
Weshalb zog es geniale Menschen in die Einsamkeit? Waren alle Genies Melancholiker? Wer ist zur Melancholie gestimmt, disponiert? Was bedingt ein Leben in Einsamkeit überhaupt? Welche Typen bringt die Einsamkeit hervor? Was treibt uns in die neue Einsamkeit? Weshalb leben wir heute in einer anonymen Single-Gesellschaft? Wer entscheidet über ein leidvolles Los im unfreiwilligen Alleinsein, in Vereinsamung und Depression oder über ein erfülltes, glückliches Dasein in trauter Zweisamkeit? Das sind existenzbestimmende Fragen, die über unser alltägliches Wohl und Wehe entscheiden. Große Geister, Dichter, Philosophen von Rang, haben darauf geantwortet – richtungweisend für Gleichgesinnte in ähnlicher Existenzlage, aber auch gültig für den Normalsterblichen, der in verfahrener Situation nach Lösungen und Auswegen sucht. Dieses Buch zielt auf das Verstehen der anthropologischen Phänomene und Grunderfahrungen Einsamkeit, Vereinsamung, Melancholie und Acedia im hermeneutischen Prozess als Voraussetzung ihrer Bewältigung. Erkenntnisse einer langen Phänomen-Geschichte können so von unmittelbar Betroffenen existentiell umgesetzt werden und auch in die „Therapie“ einfließen.
Carl Gibson, Praktizierender Philosoph, Literaturwissenschaftler, Zeitkritiker, zwölf Buchveröffentlichungen. Hauptwerke: Lenau. Leben – Werk – Wirkung. Heidelberg 1989, Symphonie der Freiheit, 2008, Allein in der Revolte, 2013, Die Zeit der Chamäleons, 2014.
ISBN: 978-3-00-049939-5